O Mensch, …

… bewein dein Sünde groß, darum Christus seins Vaters Schoß äußert’ und kam auf Erden;

von einer Jungfrau rein und zart für uns er hier geboren ward, er wollt der Mittler werden.

Den Toten er das Leben gab und tat dabei all Krankheit ab,
bis sich die Zeit herdrange,
dass er für uns geopfert würd,

trüg unsrer Sünden schwere Bürd wohl an dem Kreuze lange.

aus: Matthäuspassion J.S.Bach, Schlusschor Teil 1

Auszüge aus der Matthäuspassion und h-moll Messe von Joh. Seb. Bach, heute um 19 Uhr in der Kirche Enge. Meet us there! https://musik-kirche-enge.ch

4 Gedanken zu “O Mensch, …”

  1. „der du trägst die Sünd der Welt“ – warum rührt uns das so an,
    wo wir uns doch längst verabschiedet haben von der alten Opfertheologie und der Vorstellung, Gott würde seinen Sohn ermorden lassen für unser Heil?

    Vielleicht deshalb, weil die Not in unserer Welt und alles, was in und um uns lastet, so gross ist, dass wir uns wünschen, sie müsste nicht allein von uns getragen werden. Ist das kindlich und naiv und gar ein Abschieben der Verantwortung oder doch die Quelle einer Kraft, die hilft, gegen Unrecht und Zerstörung anzugehen?

  2. Sünde, ja, aber wenn dann richtig…

    Ja, Mensch, was soll denn das jetzt werden, wir sind doch nicht mehr in Bach’s Epoche, und dieses ganze Pathos von Opfer und Sünden und «für uns gestorben, um unserer Sünden wegen» ist eine einzige Abschreckung, oder nicht? Darum ist es dem Meister aus Nazareth doch gar nie gegangen, nach meinem Dafürhalten.

    Aber etymologisch ist das Wort Sünde schon spannend, weil es mit Sund, also einem Graben, vergleichbar ist, oder mit dem Wort «absondern» in Verbindung steht! Der Meister aus Nazareth war in meinen Augen ein grosser Brückenbauer der Liebe, und er hat in seinem kurzen Leben alles versucht, um Brücken zu bauen hin zur grösseren, zur grössten, umfassenden und bedingungslosen Liebe, jener, die uns von Gott her geschenkt und zugesagt ist. Über alle Gräben hinweg, die wir Menschen – zwischen einander und zwischen uns und Gott – aufreissen und entstehen lassen, weil wir dieser Liebe und dem «Geliebt-Werden» von Gott nicht vertrauen, weil wir der Liebe nichts zutrauen. Wenn schon, dann hat der Meister aus Nazareth doch für die Kraft der Liebe den Weg ans Kreuz auf sich genommen, ein letzter verzweifelter Versuch, uns eine Brücke zu bauen in die Liebe Gottes hinein.

  3. Bei dem Wort Sünde in diesem Zusammenhang denke ich nicht in erster Linie an alltägliche Vergehen, sondern an die sogenannte Erbsünde, den Abfall von Gott, der in der Bibel beschrieben ist. Wir sollen also die Trennung von Gott beweinen. Aber wie kam diese überhaupt zustande? Die Geschichte mit dem Apfel und der Schlange reicht mir nicht…Doch sie muss passiert sein, diese Trennung, denn Tatsache ist, dass wir hier und jetzt auf Erden sind, während Gott und Christus und die himmlischen Heerscharen, von denen die Bibel berichtet, in einer jenseitigen Welt leben.
    Wir Menschen sterben, himmlischen Wesen, so sie denn nicht Mensch geworden sind, nicht. Nun hat Christus uns verheissen, dass wir nach dem Tod zu ihm zurückkommen können, unser Tod nur ein irdischer ist und uns ins ewige Leben zurückführt. Wir sterben, um zu leben! «Den Toten er das Leben gab.» Für mich ist diese Botschaft zentral und nimmt dem Tod das Negative und die Angst vor dem Sterben.
    Es heisst im Text, dass Christus sich selbst dafür «geopfert» und den sicheren «Schoss» seines Vaters verlassen hat. Alles, um unsere Trennung von Gott aufzuheben respektive unsere Sünde zu tilgen, derentwegen wir hier auf Erden Station machen müssen. Warum liebt uns Christus so sehr, dass er entschied, diesen Weg für uns zu gehen? Er wollte «Mittler» werden. Daraus schliess ich, dass wir eine Rückkehr zu Gott aus eigenen Kräften nicht geschafft hätten. Warum nicht? Und zu guter Letzt: Zwischen welchen Parteien musste Christus vermitteln?

  4. Mir gefällt das Bild in der Bibel vom Paradies und dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Ich betrachte diese Geschichte weniger als eine Erbsünden-Geschichte, als vielmehr, dass Gott uns eine doppelte Botschaft gegeben hat: Wir dürfen von der Frucht nicht essen, weil Gott Angst um uns hat, weil Gott uns schützen will. Aber trotzdem stellt Gott den Baum der Erkenntnis in die Mitte des Paradieses, vielleicht weil auch Er eine Entwicklung, eine Bewusstwerdung von uns Menschen befürworten würde? So gesehen könnte man sagen, Gott lässt uns die Wahl.

    Wir haben uns dann entschieden, das Wagnis einzugehen und von der Frucht der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen. Nun sollten wir also Gut und Böse unterscheiden können. Doch das ist – wie wir sehen – nicht der Fall. Mit dieser Unterscheidung könnte auch der Start in den Dualismus unserer Welt gemeint sein. Wir erkennen bei allem nur das eine, weil wir auch ein Gegenstück davon sehen. Auf diese Art können wir uns entwickeln und immer weiter lernen.

    Doch da ist etwas schiefgegangen. Vielleicht hat Gott genau das befürchtet und wollte uns davor schützen: Wir schaffen es kaum, zu lernen und zu wissen, und trotzdem noch an Gott angebunden zu bleiben. Wie die Schlange voraussagte, denken wir, wir sind so gescheit, dass wir wie Gott sind. Als Gesellschaft sind wir immer weniger im Göttlichen verwurzelt. Ich behaupte, viel weniger als noch vor 2000 oder 4000 Jahren. Vermutlich wäre es wichtig, dass wir beides schaffen: sowohl zu lernen wie auch in Gott verwurzelt zu bleiben.

    Trotzdem, so glaube ich, ist niemand von Gott getrennt. Wir sind uns unserer Anbindung an Gott nur weniger bewusst.

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